16.12.04

Walser, Tod eines Kritikers

Martin Walser, Tod eines Kritikers, Suhrkam Verlag,
Frankfurt a. M. 2002,
219 Seiten

 
Eine Elementarregel der Literaturkritik sagt:  Konzentrier dich auf das Buch, schweif nicht ab und lass dich auch nicht durch den medialen Kontext, in dem es erschienen ist, ablenken.  Aber wie kann man ein Buch besprechen, das bereits vor seinem Erscheinen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als Hass-Werk und als antisemitische Beleidigung von  Marcel Reich Ranicki - je nach Gusto Deutschlands Star-Kritiker oder Literatur-Papst -  verurteilt wurde? 

Angriffe auf den Roman hätten ihm fast das Leben gekostet
 
Der im Jahr 2002 erschienene Roman „Tod eines Kritikers“ von Martin Walser hat in der Medienlandschaft Furore gemacht; und fast zum Jahresausklang deutete sein Autor in einem Interview des Hamburger Magazins „Stern“ an, dass ihn die Angriffe auf seinen Roman fast das Leben gekostet hätten.  Die an ihm und an seinem Roman geübte Kritik sei kaum zu ertragen gewesen, weitere Angriffe hätte er nicht ausgehalten:  „Dann wäre ich weg, wäre wahrscheinlich nicht mehr hier.“  

Fragen und Antworten 
 
Der Leser dieses Romans muss zwangsläufig seinen Blick hin und her wenden:  von der Vorverurteilung des Romans und von der darauf folgenden Diskussion, in der das Buch als Satire und Parodie etikettiert wurde, bis hin zur Selbstinterpretation des Autors, der sein Werk als „unglücklich verlaufene Liebesgeschichte“ bezeichnet.  Ist das Buch antisemitisch?  Ist es eine gelungene Parodie?  Ist es ein Stück lesenswerte Literatur?
Die erste Frage ist eindeutig mit Nein zu beantworten. Oder erlaubt eine Stelle auf Seite 10 des Romans eine andere Einschätzung?  Dort heißt es,  dass die Romanfigur Hans Lach den  Protagonisten und Literaturkritiker Ehrl-König verbal angegriffen habe: „Herr Ehrl-König möge sich vorsehen. Ab heute nacht wird zurückgegschlagen.  Diese Ausdrucksweise habe unter den Gästen, die samt und sonders mit Literatur und Medien und Politik zu tun hätten, mehr als Befremden ausgelöst, schließlich sei allgemein bekannt, dass Andre Ehrl-König zu seinen Vorfahren auch Juden zähle, darunter auch Opfer des Holocaust.“ 

Ehrl-König eine Beleidigung des großen Kritikers?
 
Marcel Reich-Ranicki sah in der Romanfigur des Ehrl-Königs einen Angriff auf seine Person, denn sie ist mit Attributen und Allüren ausgestattet, die zu ihm passen könnten: Ehrl-König ist Star-Kritiker, er hat einen Sprachfehler.
Dieser Ehrl-König charakterisiert sich selbst in einer Rede, die in indirekter Form wiedergeben wird.  Er räsoniert über die Romanfigur Hans Lach (Achtung: keine Rechtschreibfehler, sondern Wiedergabe eines Sprachfehlers.) 

Zitat

 „Er sei ja, das könne Martha nicht wissen, mit Hans Lach befereundet, er schätze ihn als einen außerordentlich begabten Schscheriftstellerrr, in der keleinen und der keleinsten Form gelinge ihm gelegentlich durchaus Gutes, manchmal sogar Vorzügeliches, aber im Roman:  eine Enttäuschung nach der anderen. Er kann alles mögliche, unser Hans Lach, aber das, was er offenbar am liebsten tut, am ausdauerndsten tut, erzählen, das kann er nicht, das kann er ums Verrecken nicht. Und das einem Fereund zu sagen, liebe Marthaa, das tut weh.  Aber der Keritiker hat, wenn er Keritiker ist, weder Fereund noch Feind. Seine Sache ist, solange er urteilt, die deutsche Literatür.    Wenn er, Ehrl-König, ein paar Tage hintereinander deutsche Gegenwartsliteratür lesen müsse, beneide er die Leute von der Müllabfuhr.  Wie elegant schwingen die die Kübel voll des übelen Zeugs hinauf zum Schelucker, schwupps, und weg ist das Zeug, der Kübel wieder leicht und leer, aber wie lange habe er, der Keritiker, zu würgen und zu gacksen, bis er so einen deutschen Gegenwartsroman dort habe, wo der hingehört, in den Müll.“  S. 40 f. 
Ehrl-König verschwindet unter mysteriösen Umständen, eine Blutspur nährt den Mordverdacht, der auf Hans Lach fällt.  Lach landet in der Psychatrie. Später stellt sich heraus, dass der Kritiker nicht ermordet wurde, sondern nur deshalb von der Bildfläche verschwand, weil er sich für einige Zeit mit einer Geliebten davon gemacht hatte. 

"Er war die Macht, und die Macht war er."
 
Die Romanfigur Julia Pelz-Pilgrim, Verlegergattin, Anhängerin eines Sektenkults (Saturn) und Verehrerin von Hans Lach, äußert über den Kritiker:
Er war die Macht, und die Macht war er.  Und wenn man wissen will, was Macht ist, dann schaue man ihn an:  etwas Zusammengeschraubtes, eine Kulissenschieberei, etwas Hohles, Leeres, das nur durch seine Schädlichkeit besteht, als Drohung, als Angstmachendes, Vernichtendes. Sie habe mitgekriegt, wie viele Schräubchen Ehrlkönig drehte und drehen ließ, bis er der Koloß war, vor dem alle in die Knie gingen.  Und das mit Namen der Literatur.  Im Namen Lessings, Goethes.  Nicht im Namen Hölderlins.“   Er sei ein Opfer seiner eigenen Macht geworden. (S. 76)  

Licht in den Literaturbetrieb 
 
Eine weitere weibliche Romanfigur, Lydia Streif, ergänzt die Charakterisierung:  „Dann habe Bernt (ihr Mann) Ehrl-König nur noch beschimpft, habe ihn ein Michelin-Männchen genannt, einen Fürsten der Aufgeblasenheit, eine Marionette der Egomanie, eine Fernsehlarve und der Totengräber der deutschen Literatur.2 (S. 79)
Der Roman leuchtet etwas in den Literaturbetrieb, in die Welt der Verhältnisse von Verleger und Autor, von Medienmacht und Erfolg.   Wer kein Insider dieses Betriebes ist,  kann die Realität, die damit gemeint sein soll, nur erahnen. 

Zum Schluss wird es toll
 
Gegen Ende des Buches wird es toll.  Es geht in die Psychiatrie, wo eine als Literatur intendierte Tonbandmitschrift  deftige Worte zutage bringt.  Darin werden die bekannten Fernsehrituale der Literaturkritik in grober Übertreibung aufs Korn genommen.
Wenn man den Roman zu Ende gelesen hat, nicht ohne langen Atem, dann hat man die Gewissheit, dass es sich um eine Satire handelt und dass bestimmte Personen des deutschen Literaturbetriebes parodiert werden.

Intellektuelle Übungen,
Verschachtelter Satzbau, Distanz zum Leser
 
Ob man dafür auf über 200 Seiten allerhand intellektuelle Übungen, die durchaus eines akademischen Seminars würdig wären, rezipieren muss,  erscheint fraglich.  Wegen seiner etwas gedrechselt wirkenden Sprache mit verschachteltem Satzbau und indirekter Rede schafft der Autor Distanz zum Erzählten, aber wohl auch zu nicht wenigen Lesern. 

Ja, man soll es lesen 
 
Soll man das Buch lesen?  Ja, denn sonst versteht man nicht das Theater, das vor und nach seinem Erscheinen darum gemacht wurde.  Es steht außer Frage:   Im „Tod eines Kritikers“ geht es um den Umgang mit Literatur in der modernen Mediengesellschaft.  Diese Parodie sollten diejenigen, auf die angespielt wird,  ertragen können

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